Eine kurze Geschichte von zwei Zeiten

Es war einmal eine Zeit. Und es war einmal eine andere Zeit. Diese zwei Zeiten liebten sich und sie wollten niemals auseinander gehen. Die eine wusste von nichts, die andere ahnte etwas. Die eine blieb. Die andere strebte voran. Da sie aber zusammenbleiben wollten, die beiden Zeiten, trug die vorantreibende Zeit die bleibende Zeit mit.

Die beiden Zeiten versprachen sich jeden Tag aufs Neue, sich nicht zu streiten. Doch eines Morgens machte die vorantreibende Zeit einen Punkt und sagte zur bleibenden Zeit:

„Ich kann nicht mehr. Du bist mir zu schwer.“

Und die bleibende Zeit war nicht minder unglücklich, sie sagte:

„Ich habe Heimweh.“

„Welches Heim denn?“, fragte die vorantreibende Zeit.

Und die bleibende Zeit antwortete: „Das verstehst du nicht.“

Die beiden Zeiten schwiegen. Sie schämten sich ein wenig voreinander. Trotzdem war jede Zeit auf ihre eigene Weise froh. Die vorantreibende Zeit fühlte sich von einer Last befreit. Die bleibende Zeit spürte einen tiefen Frieden in sich einkehren, hier würde sie bleiben, für immer. Und als die bleibende Zeit dies zu Ende gedacht hatte, war die vorantreibende Zeit bereits fort. Eigentlich wollten sie sich versprechen, sich wenigstens regelmäßig zu treffen, zum Reden und so, aber dazu kam es nicht mehr.

Die beiden Zeiten sahen sich nie wieder. Der Himmel färbte sich rot, der Himmel färbte sich blau, so ging das Tag für Tag und all die vielen kleinen Kinder der beiden Zeiten konnten sich nicht entscheiden, zu wem sie denn nun wollten: zur bleibenden Zeit oder zur vorantreibenden Zeit. Es tat weh, zwischen den beiden Zeiten ständig zu pendeln.

Der Himmel färbt sich rot, der Himmel färbt sich blau, und schweigt dazu. Der Fluss hält zur vorantreibenden Zeit, die Erde, na ja, Sie können sich’s denken. Priester kommen und gehen, Vögel irren herum. Keiner weiß mehr Bescheid. Kaum kennst du den Ort, verlässt dich auch schon das Leben. Kaum rührt sich das Leben, und schon bist du heimatlos.

Der Himmel färbt sich rot, der Himmel färbt sich blau. Priester kommen und gehen. Vögel irren herum. Flüsse labern vor sich hin.

Die beiden Zeiten wissen nichts mehr voneinander, haben einander vergessen. Hatten sich einst lieb, wollten sich nicht wehtun. Himmel, Priester, Vögel, Flüsse. Wollten sich nicht wehtun. War aber zu mühsam, das Nichtwehtun. Haben sich jetzt nie wieder lieb. Haben einander vergessen. Die eine immer am selben Ort, die andere immer woanders.

Author Details

Armin Jäger schreibt Kurzgeschichten und Essays. Sein Geld verdient er als Textcoach in Unternehmen. Wenn er schnaufend den Strand von Övelgönne erreicht, die Laufschuhe auszieht und die Füße in die Elbe taucht, kann er sein Glück schwer fassen.

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