Vivians Park

In Groß-Flottbek steht ein denkmalgeschütztes Backsteinensemble, eine ehemalige Schule, deren Räume zu Wohnungen umgestaltet wurden. In einer dieser edlen Wohnungen sitzen am Abendbrottisch Björn und Annika Harmsen mit ihrer Tochter Vivian.

»Wisst ihr, was Lasse Albrecht heute erzählt hat?«, platzt Vivian heraus, während ihre Mutter den Tee eingießt.

»Nein, aber du wirst es uns gleich sagen«, schmunzelt Annika.

»Lasses Vater arbeitet im technischen Rathaus und der hat mitgekriegt, dass da, wo der Cranachpark ist, neu gebaut werden soll. Sein Kollege muss nämlich die Ausschreibung machen.«

»Was soll denn da gebaut werden?«, fragt Björn überrascht.

»Eigentumswohnungen, sagt Lasse, aber das Grundstück muss erst noch verkauft werden.«

Vivian macht eine Pause und spielt gedankenverloren mit ihrem Besteck. Dann holt sie tief Luft:

»Das ist unser Park. Die können doch nicht einfach die Bäume abholzen. Das können wir uns nicht gefallen lassen.«

»Und?«, Björn lehnt sich in seinem Stuhl zurück, »was willst du dagegen tun?«

»Ich werde eine Initiative starten«,

sagt Vivian keck und lädt sich eine doppelte Portion Gemüselasagne auf ihren Teller. Björn, der durch seine Anwaltstätigkeit Erfahrungen mit Verwaltungsabläufen hat, ist überzeugt, dass ein Ausschreibungsprozess, wenn er einmal angestoßen wurde, nicht aufzuhalten ist.

»Vivian«, hebt er an und versucht einen begütigenden Ton anzuschlagen, »Wohnraum wird in unserer Stadt dringend gebraucht und wenn die Verwaltung dieses Gelände für verkaufswürdig hält, wird das schon seine Richtigkeit haben.«

»Wo sollen wir denn spielen«, ruft Vivian empört, »wir können doch nicht jedes Mal bis zur Elbe laufen, um uns zu treffen und überhaupt, wir brauchen die Bäume zum Atmen, sie sorgen für gesunde Luft.«

»Mit diesen Argumenten willst du Mitstreiter finden und die Verwaltung überzeugen? Das ist naiv. Bei solchen Entscheidungen spielen Zusammenhänge eine Rolle, die du nicht ohne weiteres durchschauen kannst.«

Björn hört schon seine Kollegen feixen:

»Naaaa, dein Töchterchen ist ja eine ganz Versponnene. Von wem hat sie das nur?«

»Vivian, ein bisschen Bewegung kann euch nicht schaden. Und was die Bäume betrifft: an den Straßen stehen doch genug davon.«

»Papa, du bist ja genauso ein Umweltbanause wie die Baubonzen.«

Vivian springt von ihrem Stuhl auf.

»Wie sprichst du denn mit deinem Vater?«, mischt sich Annika ein, die bisher eher teilnahmslos am Tisch gesessen und kaum zugehört hat. Vivian ignoriert sie.

»Papa, wir haben eben nicht genug Bäume. Bäume wandeln doch CO2 in Sauerstoff um und filtern Feinstaub und Schadstoffe aus der Luft.«

Sie lässt sich zurück auf den Stuhl und ihr Besteck auf den Tisch fallen.

»Ich habe keinen Hunger mehr. Darf ich aufstehen?«

»Nein, darfst du nicht«,

antwortet Björn und das Abendessen verläuft in bedrücktem Schweigen. Annika gibt sich unbefangen und versucht mit der Frage:

»Was war denn sonst noch so los?«, die Stimmung aufzulockern, doch Vivian blickt stumm vor sich hin und verschwindet, als ihre Mutter beginnt, den Tisch abzuräumen, in ihrem Zimmer. Sie setzt sich an ihren Schreibtisch, stützt das Kinn in die Hände und starrt aus dem Fenster.

»Er glaubt also, ich verstünde nichts von der Welt«, denkt sie und stampft unwillkürlich mit dem Fuß auf. Und als es ihr auffällt, gleich noch einmal.

»Im nächsten Jahr komme ich in die Siebte und außerdem bin ich in der Vorbereitungsgruppe für unser Projekt Natur und Gesellschaft

Sie nimmt einen DIN A4 – Bogen aus ihrem Drucker, greift zu ihrem Lieblingsstift und beginnt, ein Plakat zu entwerfen:
»Kommt zum Ahornfest – Der Cranachpark muss bleiben.«

Blatt um Blatt füllt sie; mit keinem ist sie zufrieden. Als der Papierkorb mit zerknüllten und zerfetzten Bögen gefüllt ist, packt sie entmutigt ihre Schultasche für den nächsten Tag, beschließt, schnell noch eine WhatsApp an ihre Freundinnen zu senden und sich dann im Bett einzurollen.

***

Gegen Mitternacht legt Björn die Wochenzeitung beiseite. Er kann sich nicht recht auf die Themen konzentrieren. Immer wieder geht ihm die Auseinandersetzung am Abendbrottisch durch den Kopf und lenkt ihn von der Lektüre ab. Seine bisher Argumenten zugängliche Tochter war nicht wieder zu erkennen.

»Was ist geschehen?«, fragt er sich, »Ist sie unter schlechten Einfluss geraten?«

So aufsässig hat er sie heute zum ersten Mal erlebt. Annika ist ebenso ratlos wie er, aber auch beunruhigt. Bisher war das Leben in der Familie ohne große Störungen verlaufen. Und nun dieser Ausbruch. Sie möchte sich gar nicht vorstellen, dass es der Beginn einer Serie von Auseinandersetzungen sein könnte.

***

Am nächsten Morgen begegnen sich Vater und Tochter in der Küche. Es gibt keine Abweichung vom üblichen Verlauf. Sie wünschen sich einen Guten Morgen. Dann hängt jeder seinen Gedanken nach. Björn schaltet wie üblich das Frühstücksfernsehen ein und lehnt sich mit verschränkten Armen gegen den Weinklimaschrank. Vivian hängt wie üblich mit der Nase über ihrem Müsli. Ein so früher Morgen eignet sich nicht für eine Diskussion.

Annika ist noch im Schlafzimmer; ihr Tag beginnt später.

Vivian denkt an ihren Traum: Wo ihr Park mit den üppigen Ahornbäumen gewesen war, ist nur noch eine Brache. Sie muss kilometerweit zu einem anderen Park laufen. Sie läuft und läuft, ganz allein. Dann schnappt sie sich einen Roller, hetzt von Häuserblocks gesäumte Straßen entlang, umkurvt eine Ecke nach der anderen; doch der Park bleibt unerreichbar weit entfernt.

Auf dem Flachbildschirm sieht man Bilder von jungen Menschen. »2000 Schüler und Studenten demonstrieren für Klimaschutz« steht auf dem Nachrichtenticker am unteren Bildrand. Vivian blickt kurz auf den Bildschirm, nickt ihrem Vater zu und greift mit einem knappen »Ich muss los« zu ihrer Schultasche. Als sie an ihm vorbei geht, beugt er sich zu ihr hinunter und bekommt einen trockenen Kuss auf seine noch unrasierte Wange. Seine Hand ruht kurz auf ihrem Oberarm und gleitet bis zu ihrem Handgelenk hinunter, während sie sich auf die Tür zu bewegt. Dort dreht sie sich zu ihm herum:

»Übrigens, Papa, 2050 bin ich 43, so alt wie du jetzt.«

Diese Information trifft ihn wie ein Schlag. Er starrt auf den Bildschirm. Die Tür fällt ins Schloss.

Das Foto eines Mädchens mit Zöpfen, das in die Sonne blinzelt, wird eingeblendet. Björn stutzt:

»Das ist doch dieses schwedische Klimakind. Wieso ist die so oft in den Medien?«

Ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen, schiebt er sich zur Espressomaschine, stellt eine Tasse unter die Düsen, drückt auf »Doppelter Espresso« und stellt den TV-Ton lauter, um das Mahlgeräusch und das Gurgeln des Kaffees zu übertönen. Nun dämmert es ihm: Fridays for Future. Ob daher Vivians Antrieb kommt, sich für den Schutz des Parks und der Bäume einzusetzen?

»Bin gespannt, was dahinter steckt.«, murmelt er, während er in seinem Kalender Freitag, den 10. Mai aufruft. Nur ein Termin am Nachmittag; den kann er problemlos verschieben. Noch ein Blick auf Vivians Stundenplan: Kein Nachmittagsunterricht. Das trifft sich gut.

Er wird vor der Schule auf sie warten.

Author Details

Geboren zwischen Rheinwiesen und Stahlwerken führte es mich beruflich – später auch privat – regelmäßig nach Hamburg. Nach der Jahrtausendwende bezogen wir endlich unsere erste Wohnung in Eimsbüttel – zunächst als Pendler – mit dem Ziel, dauerhaft vom Rhein an die Elbe zu wechseln.

Als Kind war ich eine begeisterte Leseratte, die ständig ein Buch mit sich herumtrug und sich bei jeder Gelegenheit darin vertiefte. Später, als Familientherapeutin und Supervisorin brachte ich literarische Texte in meine Beratungs- und Seminararbeit ein. In meiner Freizeit gestaltete ich Leseabende zu Leben und Werk unterschiedlicher Autoren von Lessing über Musil bis Herrndorf.

Zum Schreiben eigener Texte hat mich der Umzug nach Hamburg gebracht. Der Wechsel vom Rheinland ins Hanseatische, das Erleben der unterschiedlichen Mentalitäten bot und bietet mir Stoff für meine Geschichten. Ich schreibe, um Momente festzuhalten, die Zeit anzuhalten. Mich interessieren Ereignisse, die zunächst unspektakulär erscheinen und erst bei genauerem Hinsehen Überraschendes entfalten.
Ermuntert durch Zuspruch anderer AutorInnen begann ich, auch diese Texte öffentlich vorzutragen.

SchreibAltona ist für mich ein Forum, in dem ich meine Texte zur Diskussion stellen und mich mit den Texten der anderen auseinandersetzen kann. Unseren Austausch erfahre ich als Unterstützung und Anregung, besonders in schreibunlustigen Zeiten.

Seit sieben Jahren lebe ich mit meinem Mann in Ottensen, nicht gleich hinterm Deich, wie in meinen Kinder- und Jugendjahren, aber immerhin.

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