Georg Wilhelm Hansen und die Freiheit

In der Ferne an der Ufermauer entdeckte Georg Wilhelm Hansen den bunten Fleck, der sich an diesem grauen Tag wie ein Signal vom tristen Strand abhob. Das Zelt war ihm schon seit Tagen ein Dorn im Auge gewesen. Ein kalter Wind aus West schlug ihm entgegen. Er drehte seinen Rücken in den Wind. Die Elbe lag grau und trist im Morgennebel, Regen tropfte von dem Holzhaufen, aus dem das Osterfeuer später entzündet werden sollte. Seine Frau hatte heute schon früh das Haus verlassen. Sie hielt die Eröffnungsrede beim Rotary-Club-Treffen. Danach würde sie, wie jedes Jahr, auf ihre Terrasse mit Elbblick zum Umtrunk einladen, von der aus man in erlesener Runde das Osterfeuer bestaunen und sich an den bereits aufgestellten Heizpilzen bei Glühwein erwärmen konnte.

Er vergrub seine Hände tiefer in den Taschen seines handgenähten Mantels, das Kinn im Lammfellkragen und marschierte zum Zelt. Er spürte die Wärme in seinen Taschen. Groll stieg in ihm auf. Wieso musste das Zelt ausgerechnet hier stehen? Der Gedanke, seinen Geschäftspartnern und Freunden erklären zu müssen, wieso dort dieses Zelt stand, missfiel ihm. Es würde nur zu Diskussionen führen. Und die konnte er heute nicht gebrauchen. Probleme wollte er an diesem Abend ausblenden. Denn davon hatte er schon genug.

Auf der Isomatte vor dem Zelt saß ein Mann. Seine roten Hände zitterten vor Kälte. Zu Hansens Erstaunen las er ein Buch, dessen zerfledderten Umschlag er nicht erkennen konnte. Er schaute zu ihm auf. Wie ein Schutzschild drückte er das Buch mit überkreuzten Armen vor seine Brust.

Der Dreck unter den Fingernägeln und seine schmutzige und von Löchern durchfressene Jacke – Hansen ekelte sich vor dem Mann und vor sich selbst. Mit der ihm verbliebenen Höflichkeit murmelte er: „Sie können hier nicht bleiben. In drei Stunden möchte ich Sie bitten, hier verschwunden zu sein.“

„Kommt nicht in Frage, Alterchen! Hier ist mein Zuhause. Nur die Klingel ist gerade kaputt. Und wenn sie heil wäre, hätte ich die Tür nicht geöffnet! Wir sind jetzt Nachbarn.“ Der Mann schien sich zu freuen. Hansen schaute in eine große Zahnlücke.

„Wir sind überhaupt nichts! Sie verlassen in drei Stunden diesen Ort!“ Hansen wiederholte sich ungern, schäumte innerlich vor Wut. Er brüllte, was er nicht beabsichtigt hatte. Er war es gewohnt, dass die Menschen taten, was er sagte. Der Westwind trieb den Nieselregen elbaufwärts. Schweigen breitete sich aus. Am Ufer bellte klagend ein Hund. Als könnte ihn dies vor der unerträglichen Stille schützen, schlug Hansen seinen Kragen hoch.

„Und jetzt?“, fragte der Mann vor dem Zelt. „Bleibst Du hier stehen?“ „Warum tun Sie nicht, was ich Ihnen sage?“ Hansen wollte es drohend zischen, aber es klang nach einer Frage. Er hatte sich auf Gezeter bei der Räumungsaktion eingestellt, auf betrunkenes Gebrüll, aber nicht auf souveräne, sympathische Gegenrede. „Weil ich bevorzuge, es nicht zu tun. Weil ich ein freier Mensch bin“, sagte der Obdachlose mit fester Stimme. Diese Antwort traf Hansen unvorbereitet und mit voller Wucht.

„Sie haben Herman Melville gelesen?“ Hansen konnte nicht glauben, was er gerade gehört hatte. Die Antwort des Mannes klang wie ein lupenreines Zitat seines Lieblingsschriftstellers.

Seit Jahren hatte er keinen Gedanken mehr an Bartleby, den Schreiber aus der New Yorker Wall Street verloren, der sich allem entzog, indem er bevorzugte, die Aufgaben nicht zu tun. Ich bevorzuge, es nicht zu tun! Es war genau dieser Satz, den Hansen seinen Eltern entgegnete, wenn sie ihn baten, etwas zu tun, das ihm lästig war. Er erinnerte sich daran, wie er in seinem Spielzimmer umringt von Holzspielzeugen stand. Er wollte nicht aufräumen. „Ich bevorzuge, es nicht zu tun!“ entgegnete er seinem zornigen Vater, der dann seufzte und seine Mutter herbeirief. Irgendwann hatte Hansen aufgehört, sich aufzubäumen. Irgendwann hatte er begonnen, das zu tun was man von ihm erwartete. Es war dieser Satz von Melville, den Hansen sich bei seinem Vater abgehört hatte. Erst viel später, als er lesen konnte, begriff Hansen, dass es ein Zitat war, das sein Vater selbst stets mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln anführte. Und dass er nachgeplappert hatte. Und Moby Dick! Als Kind hatte Hansen dieses Buch verschlungen, sodass er vor Jahren ein besonders seltenes Exemplar mit Widmung des Autors für die Familienbibliothek hatte kaufen lassen. Seitdem hatte er es nie wieder angerührt. Es war seine Erinnerung an glückliche Kindheitstage. Jetzt verstaubten sie im Bücherregal. Er wollte das Buch besitzen. Nur darum war es ihm gegangen. Scham stieg in ihm auf. Scham für seine eigenen Vorurteile und die kleine Welt, in der er sich nun gefangen sah. Schon als Kind war es sein Traum gewesen, mit einem Segelboot die Welt zu umrunden. Warum hatte er es nie getan? Warum hatte er sich stets dem gefügt, was man von ihm erwartete? Er sehnte sich nach Freiheit.

„Wer kennt denn nicht Melville?“, sagte der Mann mit fester Stimme. „Er war ein großartiger Schriftsteller.“ Gedankenverloren nickte Hansen. „Und woher bekommen Sie Ihre Bücher?“ Er erhob sich mit wackeligen Beinen und Hansen streckte ihm die Hand entgegen. Er konnte nicht anders. „Georg Wilhelm Hansen, ich wohne oben am Ufer“, stellte er sich vor. „Ich bin Eddie“, antwortete fröhlich der Mann. „Wo ich wohne, weißt Du ja schon.“ Sein Händedruck war fest und kalt.

„Wo waren wir stehen geblieben? Bei den Büchern, richtig…“ fing Eddie die Stille auf. „Ich sammele sie auf vor den Haustüren. Ist immer mal wieder etwas Lesbares dabei.“ Hansens Blick fiel auf das zerfledderte Buch, das Eddie sich eben noch vor die Brust gehalten hatte. Es war in den Sand gefallen, als er aufstand. „Was lesen Sie jetzt?“ „Jetzt gerade lese ich „Der alte Mann und das Meer“ von Hemingway. Es lag in einem Hausflur in Ottensen. Deswegen mein neues Quartier hier unten am Wasser. Ich hatte Fernweh.“ Hansen lächelte. Er konnte es gut verstehen. Er konnte Eddie gut verstehen. Wer war eigentlich freier? Eddie oder er? Wie frei war er überhaupt? Hatte er sich diese Frage jemals gestellt? Er nahm sich vor, noch vor dem Osterfeuer sein Melville-Exemplar aus der Bibliothek zu holen. Eddie zu verscheuchen, ging jetzt nicht mehr. Zu viele Fragen schwebten plötzlich in der Luft und breiteten sich aus wie große Wolken.

„Eddie, ich möchten Ihnen nicht zu nahe treten, aber würde Ihnen sehr gern meine Gartenlaube zur Übernachtung anbieten. Sie hat eine Heizung und ein Bett und eine Leselampe finde ich auch noch.“ Sein Schamgefühl ließ ihn jetzt ein wenig aus dem Schwitzkasten. Erleichtert schaute er Eddie in die Augen.

„Ich danke Dir für dieses Angebot, Alterchen!“ Aber ich habe mir diesen Platz ausgesucht, weil ich wirklich an das Meer wollte, weil ich mich hier frei fühle.“ Eddie ließ sich wieder auf seine Isomatte fallen.

Seltsam entrückt und tief in Gedanken versunken, grub Hansen seine Hände in die Taschen seines Mantels. Der Regen legte sich wie ein nasser Film auf sein Gesicht. Er hatte die Haushälterin noch anzuweisen. Am Abend suchte er vergebens den bunten Fleck an der Ufermauer. Er war verschwunden.

Text: Sonja Baer

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Der Autor/die Autorin schreibt für SchreibAltona.

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