Das Große Innehalten

Da saß jemand. Das Licht bestrahlte ihn gerade recht eindrucksvoll mitten in dieser morgendlichen Brötchenholstunde. Jetzt, wo die Sonne ihren Weg zwischen dem City-IKEA und Krögers Feinkostladen bahnte. Naja, dachte ich, zwanzig Meter entfernt von der drohenden Begegnung. Man ist ja einiges gewohnt, hier, in der Neuen Großen Bergstraße. Lieber den Blick nach vorne richten, Richtung Drogeriemarkt, dorthin, wo der einzige Ausflug des Tages gehen sollte.

Ich zog den Mundschutz über. Warum gerade jetzt, als ich ihn erblickte, weiß ich auch nicht. Schließlich hielten sich die wenigen Leute hier an den vorgeschriebenen Mindestabstand. Wohl ein Selbstschutzreflex aus Vor-Corona-Zeiten, denn an gesunden Tagen haben wir hier:
1) mindestens 2 wohltätige Organisationen, die Mitglieder anwerben, meistens hübsche Mädchen und Jungs mit Klemmbrettern und Ausweis-Halsbändern, die einen umtanzen wie junge Hunde; 2) die seltsamsten musikalischen Darbietungen, auch ostasiatischer Art, mit Obertongesängen, die einem die Haut abziehen, und 3) die Bettler, in allen Spielarten gespielter Demut, mit oder ohne Tiere, organisiert oder frei anschaffend und in allen Abstufungen körperlicher und mentaler Versehrtheit. Wie gesagt, wir hier in Altona sind einiges gewohnt. Da muss man seine Aufmerksamkeit und sein Mitgefühl gut dosieren.

Aber ein Bettler war er nicht, das checkte ich auf zehn Metern Begegnungsentfernung. Dafür war er 1) viel zu gepflegt. Er trug einen Bart, aber keinen übermäßigen, so wie jeder hier lebende Hipster halt auch. Das gleiche galt für seine Kleidung, ein gut sitzender, dunkelblauer Strickpulli, silbergraue Jeans und Markensneakers, die er trotz Lotossitz anbehalten hatte. 2) fehlte jede Art von Bettelgefäß, weder die Basisversion, der abgenutzte Pappbecher, noch die aufwändigere Inszenierung mit Plastikblümchen, religiösem Gedöns und Notstandserklär-Pappschildern. Nein: Nichts wies darauf hin, dass er irgendetwas von uns wollte. Und 3), das erkannte ich ab Meter fünf, saß er auf einer schlichten, aber edel gearbeiteten Reisstrohmatte, die sich kein Bettler leisten konnte.

Seine Augen trafen mich, aber sie folgten mir nicht. Lächelte er mir zu? Aber nichts an seinem Gesicht hatte sich während meines Vorbeigehens verändert. Nicht einmal seine Wimpern hatten gezuckt. Kann man positiv erschrocken sein? Es war so, als hätte mir jemand von hinten die Augen zugehalten und Sekunden später findest Du Dich in den Armen eines geliebten Menschen wieder. So erleichtert. So heiter. So, ja so glücklich, so richtig albern glücklich, dass meine Beine Lust bekamen zu tanzen, was ich ihnen gerade noch untersagen konnte. Dieses Gefühl trug mich bis zum Drogeriemarkt. Dort keiften die Besucher wieder „Abstand“, beim Klopapier klafften immer noch Lücken, aber das Katzenfutter, auf das ich aus war, namens „Perfect Fit“ in der blauen Indoor-und der gelben Sensitive-Version, die gab es noch. Unsere beiden Felltierchen waren also wieder gerettet.

Auf dem Rückweg nickte ich ihm freundlich zu. Er nicht. Aber wieder traf mich sein Lächeln. Ich sah es nicht, aber ich spürte es. Als würden sich zwei Kindergartenfreunde erkennen und in gemeinsamen Erinnerungen baden. Auf Kirschbäume klettern, Kaugummiblasen platzen lassen, eine riesige Carrerabahn aufbauen und auf die Tube drücken, so was in der Art.

Erst dann bemerkte ich die Grüppchen, die um ihn herumstanden. Sie betrachteten ihn. Gingen um ihn herum. Ich schnappte Worte auf: „Performance … Buddhismus … Sit-In“. Merkwürdig, warum die noch redeten. Ich lächelte und ging weiter.

Am Nachmittag fehlten Eier. Mia wollte wieder Pfannkuchen backen. Nach 14 Tagen Homeschooling wehrte ich mich nicht mehr gegen ihr Bedürfnis, täglich irgendetwas backen. Sie hat auch schon ein kleines Bäuchlein bekommen, das sich von ihrem elfjährigen Spaghettikörper abhob. Aber fett werden jetzt fast alle. Nur ich nicht. In Stresszeiten neige ich zur Magersucht und ich weiß nicht, was schlimmer ist. Jedenfalls: Mia wollte wieder backen und ich hatte heute morgen die Eier vergessen. Also mussten wir wieder raus. So ging das seit Tagen: Wir schafften es nicht, unsere Einkäufe auf einen pro Tag zu reduzieren. Okay. Mia würde ein bisschen Bewegung sowieso guttun. Und weil ich sie dieser Tage ungern alleine in die zickigen Supermärkte schickte, ging ich wieder mit.

Da saß er noch immer. Und nicht nur er alleine. Etwa ein halbes Dutzend Menschen saß mit ihm, aber brav im doppelten Mindestabstand voneinander entfernt. Alle waren Frauen. DIE Sorte Frauen, die man immer vor der Yogaschule sah. Sie hatten auch diese Matten zum Ausrollen mitgebracht und trugen diese „bequeme Kleidung“, die man laut Yogaschulen-Flyer mitbringen soll. Und diese ernsten Blicke hatten sie auch, als machte sie das bisschen Atmen schon zu Speerspitzen der Evolution. Halt nein, da hinten saß auch eine Frau, die sah aus, als hätte sie Humor, sonst hätte sie sich nicht in einem Business-Kostüm dazugesetzt, dazu noch ohne Matte. Also doch nicht so homogen, seine Anhängerinnen. Ich sah ihn an. Wieder dieses Lächeln von innen zu innen. Wie ein Gruß unter heimlichen Komplizen. „Hilf mir“, sagte es da in mir. Und ja, ich verstand. Hier fehlte etwas. Hier fehlten Männer. Männer wie ich.

„Papa, was machen die denn hier?“, frage Mia. Ich murmelte etwas von „Performance … Buddhismus … Sit-In“, was Mia schnell egal war. Sie ist ja einiges gewohnt in Altona. Und wie als Antwort auf dieses stille Spektakel begann sie, Räder zu schlagen. Eins nach dem anderen und so schnell, als wäre sie ein Windrad aus Papier. Normalerweise hätte ich sie ermahnt, wegen der schmutzigen Pflastersteine, der Viren, die dort lauern könnten. Aber ich lächelte nur.

Wieder zuhause. Wieder Pfannkuchen. Und wieder hatte Mia die Küche mit Teigspritzern versifft, die nun langsam vor sich hin trockneten und nur nach mühevollem Kratzen und Scheuern wieder abzukriegen waren. Mia mampfte indessen die Pfannkuchen, mit Bananen belegt und dick mit Nutella bestrichen. Doch ich hatte keine Schimpf-Energie mehr. Ich packte die eingerollte Shiatsu-Matte meiner Frau und verließ die Wohnung. „Papa, wohin gehst Du!“, rief Mia im Treppenhaus nach. „Sitzen!“, brüllte ich nach oben.

Ich war unendlich traurig. Ich wollte diese Welt nicht mehr, bestehend aus Essen machen, Essen essen, dazwischen immer wieder Aufräumen und Warten auf Aufträge, Warten auf eine Zukunft, die nicht mehr kommt. Ich wollte, dass alles aufhört. Und dort, wo sie jetzt saßen, er und mittlerweile zwanzig Frauen, dort hörte es auf. Und dort zog es mich jetzt hin. Ich rollte die Shiatsu-Matte aus und setzte mich zu ihnen. Wieder dieses Lächeln da drinnen. Es sagte mir, dass ich gefehlt hatte und es jetzt, jetzt vollkommen sei. Ich schloss die Augen. Ich öffnete sie wieder. Und ja, alles Bisherige hörte auf. Nur noch Herzschlag, Luft rein, Luft raus, erst schwamm ich in einem Meer aus Freude, dann sah ich mich, wie ich in einem Meer aus Freude schwamm und dann war ich selbst dieses Meer aus Freude.

„Papa, hier bist Du! Was machst Du hier! Papa? Papa!“ Mia rüttelte an mir. Aber an einem Meer aus Freude kann man rütteln, so viel man will, es strömt einfach weiter. Vor und zurück. Schließlich ließ sie von mir ab und holte ihr Handy aus der Jacke. „Mama!“, hörte ich sie noch hineinrufen, dann verschwand sie.

Jetzt kamen weitere Männer. Und natürlich noch weitere Frauen. Männer wie Frauen wurden jünger. Und älter. Immer weitere bunte Wellen, vereint in einem einzigen Meer. Die Sitzenden reichten nun schon bis zur Haspa. Und es war so still, dass man die Vögel hörte. Wenn man die Vögel hören wollte. Oder die Ameisen.

Als sich die Sonne pfingstrosenrot über dem Bahnhof verabschiedete, wirbelte lautlos das Blaulicht an den Häuserwänden. Immer greller, immer schneller. Autotüren klappten zu, Polizisten kamen. Sie gingen an uns Sitzenden vorbei und wussten nicht so recht, was tun. Wir saßen immer noch brav drei Meter voneinander und der vorgeschriebene Mindestabstand war eineinhalb. Wir blockierten nichts und niemanden. Nur, dass wir inzwischen unüberblickbar viele waren. Funkgeräte krächzten. Man wartete auf Anweisungen, die nicht kamen. Dann gingen sie wieder in ihre Wagen zurück. Bis auf eine junge Polizistin. Ich spürte, wie sie die sitzende Menge betrachtete, ich spürte erst ihr Zögern, dann ihre Sehnsucht. Sie setzt sich und gehörte ab jetzt zu uns.

Wenig später kamen die Fernsehteams. Die Korrespondentin vom heute-journal baute sich direkt vor mir auf, mit einem dieser Mikrofone, die jetzt mit Plastik überzogen sind. Sie berichtete von einem Phänomen, so unheimlich wie schön, und nein, niemand sei ansprechbar und außerdem wage sie nicht, hier zu stören, denn diese Atmosphäre hier, sagte sie, hätte etwas Heiliges. Etwas so Heiliges, wie sie es selbst in ihren Tagen als Rom-Korrespondentin nie erlebt hätte. Und nein, es seien keine politischen Forderungen bekannt.

„Bubu, hallo? Hörst Du mich?” Ab Tag 5 im Shutdown haben wir zuerst die Katzen einheitlich „Bubu“ genannt und ab Tag 7 hießen wir alle so. Ines kam mit ihrem Rucksack direkt von ihrer Schicht und schüttelte mich sanft. Sie war Anästhesistin im AKH Altona, somit die Einzige in der Familie, die noch Geld verdiente. Ich nahm sie in den Arm. In ihrem Körper wogte ein Meer aus Müdigkeit. Als unser Meer auf ihres traf, und tiefe Müdigkeit und tiefe Freude sich vermischten, begann sie zu weinen. Und wir verstanden sie alle. Nach und nach schwamm ihre Erschöpfung dahin. Eine halbe Stunde schlief sie auf meinem Schoß, dann richtete sie sich auf und war fortan eine von uns. Auch Mia verstand, was hier im Gange war. Still falteten wir die Shiatsu-Matte auseinander, so dass wir alle drei Platz hatten. Allmählich wurde es dunkel und die Laternen schalteten sich an.

Gegen fünf Uhr morgens stand ich auf. Ines und Mia blieben. Ich ging an den Sitzenden vorbei. Mittlerweile waren auch Menschen asiatischer Herkunft darunter. Und Moslems auf ihren Gebetsteppichen. Und die Seitenstraßen waren voller sitzender Menschen, die in sich ruhten wie uralte Bäume. Die ersten Lieferwagen hupten, so zaghaft wie man nur hupen kann, und drehten wieder ab.

Zuhause füllte ich die Katzennäpfe mit Perfect Fit gelb. Aber Bubu und Bubu eilten nicht herbei wie sonst. Sie saßen auf dem Flur und schnurrten zufrieden. Seit Jahren hatten uns die beiden gelehrt, Ruhe zu bewahren und Kräfte zu sammeln für den einen großen Sprung. Das verstand ich jetzt. Ich wollte die beiden streicheln, doch sie erhoben sich und ließen sich genau eineinhalb Meter von mir entfernt wieder nieder. Auch sie schienen zu verstehen, was gerade los war. Sie wollten, dass ich wieder verschwinde.

Als ich zu unserem Platz zurückkam, war diese Heute-Journal-Korrespondentin wieder da. Sie hielt mir das Mikro unter die Nase und fragte irgendwas, doch ich nahm nur lächelnd meinen Platz ein. Sie redete etwas vom „Ort, wo alles begann“, von „den Menschen der ersten Stunde“, dann erwähnte sie Städte wie New York, Tokio, London, Mumbai, Rio und Cape Town, doch das wussten wir schon längst. Aus dem Meer waren mindestens drei Ozeane geworden.

Auf dem Monitor einer Kamera sah ich, wie ein Virologe vom Robert-Koch-Institut zugeschalten wurde. Ob das ein neues Corona-Symptom sei oder schon eine neue Pandemie, wolle man wissen. Das sei noch zu früh zu sagen, meinte er. Besorgniserregend sei jedoch die Appetitlosigkeit der Sitzenden, Wasserflaschen und Care-Pakete des Roten Kreuzes würden überall verweigert. Aber andererseits ginge es den Sitzenden gut. Sie ließen sich bereitwillig untersuchen. Herzschlag und Atmung seien bei allen Stichproben normal. Vielleicht sei es ja doch eine politische Demonstration mutmaßte er.

Ja wir atmeten gut. Ja, wir waren gesund wie noch nie. Und ja, wir konnten sie wahrnehmen: Die Newsfeeds, die Facebooker, die Twitterer, all die neuen Erklärungsversuche und Verschwörungstheorien. Und natürlich die politischen Gruppen und Terrorzellen, die nun ihre Forderungen an die Medien schickten, weil wir mal Opfer ihres Giftgas-, mal ihres bakteriologischen Anschlags waren.

Doch wir, die da saßen und voller Freude innehielten, wir wussten es besser. Etwas hatte aufgehört. Und etwas Neues war im Entstehen. So einfach, und so kraftvoll war das. Immerhin war Frühling. Die Sonne bahnte sich wieder ihren Weg zwischen Ikea und Krögers Feinkostladen und liebkoste die zarten Blätter der jungen Bäume. Nichts war jetzt stärker als ihr Grün.

Author Details

Armin Jäger schreibt Kurzgeschichten und Essays. Sein Geld verdient er als Textcoach in Unternehmen. Wenn er schnaufend den Strand von Övelgönne erreicht, die Laufschuhe auszieht und die Füße in die Elbe taucht, kann er sein Glück schwer fassen.

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