Dysutopia

Schnee, Ende April – am liebsten hätte ich mich wieder umgedreht. An anderen Tagen wäre das auch problemlos möglich. Aber heute ist der 30. April, Corona-Befreiungstag und ein großartiges Gremium hat vor einigen Jahren festgelegt, dass an diesem Tag alle ins Büro, in ein Café, einen Workingspace gehen sollen um zu arbeiten. Homeoffice war an dem Tag verboten. Was für eine tolle Idee… TimeMe und nervige Pings meines Kollegen erinnern mich daran, dass ich jetzt aus meiner Wohnung muss, um mich im Café in Mitte rechtzeitig in die Konferenz einzuwählen.

„Zum 25. Jahrestag haben sie sich ja einiges einfallen lassen“, verschlafen werfe ich einen Blick aus dem Café-Fenster zum deutschen Regierungssitz von Face-Net-Goo-Zon. Über die gesamte Fassadenbreite und mindestens 10 Meter hoch prangt in roter Schrift:

WENN DIE WAHRHEIT ZU SCHWACH IST, SICH ZU VERTEIDIGEN, MUSS SIE ZUM ANGRIFF ÜBERGEHEN!

„Das diese Künstler immer so dramatisch sein müssen“, versucht Tom mit mir ins Gespräch zu kommen, ich bin diesen Small-Talk-Quatsch allerdings einfach nicht mehr gewöhnt: „Welcher Jahrestag ist dieses Jahr eigentlich?“ Tom verdreht nur die Augen. „Mann, Mann, Mann, hörst Du mir überhaupt zu? Kannst ja noch mal selber nachrechnen – vom 30. April 2021 bis zum 30. April 2046 sind es wie viele Jahre?“ „Mhh“, ich kämpfe mit dieser blöden Technik, bei mir in der Wohnung ist alles perfekt eingerichtet.

Natürlich weiß ich, welcher Jahrestag ist – in den vergangenen Wochen, ja Monaten wurden wir digital und analog zugeschissen mit Hinweisen zum 25. Jahrestag. In den Läden gibt es als kleinen Witz sogar XXXL-Toiletten-Packungen im Angebot. Wer nutzt denn noch Toilettenpapier? Wie auch immer. Und heute ist ganz Berlin auf der Straße – mit Mundschutz. Zu Ehren der Supra-Konzerne sind diese mit dem Emblem von Face-Net-Goo-Zon gebrandet. Schließlich war es deren Verdienst, größeres Unglück von den Menschen abgewendet und eine Rückkehr zur Normalität ermöglicht zu haben. Ich bin bei den Jahrestags-Feiern immer begeistert dabei. Denn Corona war zwar eine verheerende Pandemie – die Pest des 21. Jahrhunderts –, der mehr als einer Millionen Menschen weltweit zum Opfer gefallen sind. Doch vor dieser Zeit herrschten auf der Welt Kriege, Klima- und Umweltzerstörung und Egoismus. Seit die Supra-Konzerne nach der Auflösung der Einzelstaaten die Welt führen, ist alles besser und es gibt allen Grund zu feiern: Digitalisierung, Umweltschutz, Sicherheit ermöglichen allen Menschen ein perfektes Leben.

Ich gehöre als erste Generation Nach-Corona zu den Profiteurinnen dieser Zeit: Beste Schulbildung, kostenloses Studium, Top-Job und eine günstige Wohnung in der grünen Bezirksstadt Berlin. Und ich bin nicht alleine – es gibt keine Arbeitslosigkeit, dazu ein Grundeinkommen für alle, keine Hungersnöte, keine Fluchtursachen mehr. Ich muss wieder an den Satz gegenüber denken: WENN DIE WAHRHEIT ZU SCHWACH IST, SICH ZU VERTEIDIGEN, MUSS SIE ZUM ANGRIFF ÜBERGEHEN! Wie kann unsere aktuelle Weltlage von anderen kritisiert werden? „Wahrscheinlich sind das die unverbesserlichen 2000er. Die haben doch vor Corona schon alles kritisiert und in Frage gestellt – die Politik mache zu wenig für den Klimaschutz, überlasse Flüchtlinge ihrem Schicksal und handele nur aus Eigeninteresse, zum Nachteil von Schwächeren,“ Tom holt mich aus den Gedanken zurück „Lass doch“, nuschle ich nur – froh darüber, dass ich endlich eine Verbindung zu MeetMe habe. „Das interessiert sowieso niemanden und das Transparent ist auch schon fast wieder verschwunden.“ „Trotzdem, ist denn etwas mehr Dankbarkeit zu viel verlangt – die Schmarotzer nehmen alle Vorteile mit, aber finden immer etwas zu meckern.“ „Mhh, ich glaube, das wird heute nichts mit der Konferenz“, auch auf unserem Holo-Schirm erscheinen die fetten Buchstaben: WENN DIE WAHRHEIT ZU SCHWACH IST, SICH ZU VERTEIDIGEN, MUSS SIE ZUM ANGRIFF ÜBERGEHEN! statt die Gesichter unserer Kolleginnen und Kollegen. „Dieser kunst-versiffte Dreckshaufen,“ genervt fährt Tom das System runter. Ich versuche es über mein Smartphone, doch auch bei CallMe ist statt eines Piepton nur eine verzerrte Stimme zu hören: WENN DIE WAHRHEIT ZU SCHWACH IST, SICH ZU VERTEIDIGEN, MUSS SIE ZUM ANGRIFF ÜBERGEHEN! „Keine Chance, dann haben wir heute wohl frei.“ Da ich schon mal aufgestanden bin, mich durch die vollen Velo-Straßen gequält haben, kann ich gleich hier im Café bleiben und einen Espresso genießen. Habe ich schon ewig nicht mehr gemacht. In meiner Jackentasche krame ich nach meiner PayMe-Karte – mit meinem Smartphone kann ich heute sicher nicht zahlen. Und dabei kommt der Flyer wieder in meine Hände.

Zum regionalen Befreiungs-Tag Ende Oktober 2045 hatte ich den Flyer von einer Demonstrantin in die Hand gedrückt bekommen. MAN MUSS PROTESTIEREN – steht in leuchtenden Buchstaben auf dem Flyer. Warum hatte ich den überhaupt mitgenommen? MAN MUSS PROTESTIEREN – und wofür oder wogegen? Nur dieser eine Satz steht darauf. Natürlich hatte ich bereits von den Protesten und den Graffitis gehört, die immer wieder illegalerweise auftauchen. Seit dem Ende der Krise mahnen sogenannte Künstlern: Mit der Machtübernahme von Face-Net-Goo-Zon ist die Zeit der unabhängigen Theater vorbei, Kunst ist nur noch schön, aber hohl und nichtssagend. So wirklich verstehe ich die Aufregung nicht – es gibt doch noch Theater, es gibt noch Künstler, es gibt noch Musik und Unterhaltung. Wo ist das Problem? MAN MUSS PROTESTIEREN. Muss man protestieren und wofür oder wogegen?

„Was meinst Du, wollen die uns mit dem Spruch sagen?“, Tom war auch im Café sitzengeblieben, ich hatte ihn ganz vergessen. Bevor ich etwas sagen kann, gibt er sich selbst die Antwort: „Diese kunst-versifften Schmarotzer sehen in allem doch eine Verschwörung und einen Angriff auf unsere Freiheit – mich hat keiner gefragt, ob ich mich unterdrückt, bevormundet fühle. Und mal ehrlich: Mehr Transparenz und Offenheit als mit TransApp und TrackMe hat es nie gegeben – ist meine Meinung.“ „Mhh,“ ich würde gerne einfach nur einen Espresso trinken. Plötzlich dringen über das Soundsystem in den Straßen und im Café Parolen: Recht auf No-Tracking, Redefreiheit, Kunstfreiheit, Meinungsfreiheit, Ende der Konzern-Diktatur. „Jetzt muss dieses Gesocks auch noch die Soundanlage hacken. Wann greift ProtectUs endlich durch? Ich bin weg, Süße“, zum Glück verschwindet Tom wieder auf seinen Landsitz außerhalb Berlins.

Mein Blick wandert zwischen dem fast abgehängten Transparent am Regierungsgebäude und meinem Flyer auf dem Tisch vor mir hin und her. Seit mich die Demonstrantin angesprochen hat, sind mir in den Straßen und bei StayClose immer wieder Graffitis, Graffitis, die gerade entfernt werden, Transparente oder bereits halb abgerissene Transparente aufgefallen:

DER REST IST SCHWEIGEN

MAN KANN DEN MENSCHEN NICHT VERWEHREN ZU DENKEN, WAS SIE WOLLEN

WER ÜBER GEWISSE DINGE NICHT DEN VERSTAND VERLIERT, DER HAT KEINEN ZU VERLIEREN

DIE WISSENSCHAFT IST DER VERSTAND DER WELT, DIE KUNST IHRE SEELE

DIE KUNST IST EINE VERMITTLERIN DES UNAUSSPRECHLICHEN

KUNST GIBT NICHT DAS SICHTBARE WIEDER, SONDERN MACHT SICHTBAR

Plötzlich erinnere ich mich, dass wir anfangs im Job bei unseren Meetings drüber gesprochen haben, und auch InformYou hatte davon berichtet. Doch die Berichte verschwanden, stattdessen gab es mehr Theaterstücke und Konzerte und natürlich Serien und Filme – vor allem zur glorreichen Bekämpfung von Corona. Für jeden Entertainment-Geschmack das passende. Mich machten die Parolen nachdenklich, doch zugleich habe ich nicht verstanden, was das soll. Was ist denn verkehrt daran, dass es allen Menschen gut geht? Alle haben Zugang zu Bildung und Nahrung. Da die gesamte Welt unter der Führung von Face-Net-Goo-Zon steht, gibt es keine Kriege mehr. Alles bestens, oder?

„Na, Lust auf eine besondere Jahresfeier?“, reflexartig lasse ich den Flyer in meiner Hand verschwinden. Vorsichtig blicke ich zur Seite und sehe in das grinsende Gesicht der Demonstrantin, die mir diesen Flyer vor einem halben Jahr in die Hand gedrückt hat. Ich will gar nicht wissen, ob es Zufall ist oder nicht, dass sie mich wieder gefunden hat. „Du warst, die einzige, die damals einen Flyer genommen hat und ich hab Dich gerade zufällig hier sitzen sehen“, Gedanken kann sie anscheinend auch lesen. „Also, Lust auf etwas Verbotenes? Dann schalte TrackMe aus und komm mit“, die Künstlerin ist ziemlich hartnäckig. „Du bist lustig, ich kann TrackMe nicht ausschalten,“ bevor ich den Satz beende, hält sie mein Smartphone in der Hand, wischt und tippt: „Du kannst, und los jetzt.“

Ich finde mich vor einer Metalltür wieder, hinter der es in ein verzweigtes Netz aus Gängen und Räumen geht. „Ein Überbleibsel vom 2. Weltkrieg, im Kalten Krieg reaktiviert und jetzt vergessen. Also genau der richtige Ort für uns Künstler,“ Maria Stuart gibt im Bunker die Fremdenführerin. „Wir haben hier unsere Ateliers, Galerien, Museen, Theater, Bühnen und Clubs – für jeden echten Musik- und Kultur-Liebhaber das passende. Warst Du eigentlich schon einmal in einem richtigen Theater?“ Ok, sie hält mich also für eine oberflächliche Face-Net-Goo-Zonerin, die keine eigene Meinung hat. „Ja, Miss Stuart, natürlich war ich schon mal im Theater, sogar das Stück Maria Stuart sagt mir etwas.“ „Lass mich raten, Du hast die Disney-Version gesehen.“ „Und wo geht es hier hin?“, auf eine Klugscheißer-Diskussion habe ich gerade keine Lust. „Das ist unsere Theaterbühne, noch wird geprobt, heute Abend zeigen wir Hamlet. Sag mal, warum hast Du damals den Flyer mitgenommen?“ „Was heißt ´mitgenommen`. Du hast mir den einfach in die Hand gedrückt, ich hatte keine Wahl.“ „Du hast den aber nicht gleich an der nächsten Ecke weggeworfen, sondern behalten und sogar heute wieder hervorgekramt.“ Ich zucke nur mit den Schultern. Zwar gehe ich gerne ins Konzert oder Theater, aber diese Underground-Kultur sagt mir wenig.

Sofort habe ich jedoch das Gesicht meiner Tante vor Augen. Sie war für mich das Sinnbild der alten Kultur: Wann immer ich ihr von einem Theater- oder Konzert-Besuch erzählte, schüttelte sie nur verächtlich den Kopf. ´Meine Liebe, das ist Kommerz nicht Kultur. Vor Corona nannten wir das Musical und nicht Theater – Theater ist Kunst, ist Leben, ist Freiheit, ist Eintauchen in eine andere Welt mit Herz und Verstand. Die Stücke von heute sind vielleicht schön, nett, aber sie fordern Deinen Geist nicht heraus, sie taugen nicht für Skandale, für radikal Neues. Und warum nicht? Face-Net-Goo-Zon möchten nicht, dass Du denkst, dass Du eine eigene, kritische Meinung hast. Wenn Face-Net-Goo-Zon sie nicht gelöscht hätten, würde ich Dir bei WatchMe Aufzeichnungen vom Berliner Ensemble oder der Schaubühne zeigen – das ist Theater! Hast Du Dich mal gefragt, warum Theater und viele kulturelle Einrichtungen in der Corona-Zeit so lange gesperrt waren? Es war für die Mächtigen der damaligen Zeit der einfachste Weg, kritische Institutionen mundtot zu machen. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie viele Bühnen – private, staatliche, kleine und große Häuser – wir allein in Berlin hatten. Da niemand ins Theater durfte, gab es nach Corona nur noch die staatlichen Bühnen. Und nach der Machtübernahme von Face-Net-Goo-Zon bleiben diese Häuser zwar geöffnet, doch sie raubten ihnen ihre Seele und machten sie zu Kommerz-Tempeln, wie alles. Mehr als alle Regierenden vorher ist bei den Supra-Konzernen Kritik unerwünscht, sie wollen nicht, dass wir Überraschungen erleben. Alles ist kontrolliert, geregelt, genormt – Anderssein ist nicht erwünscht und wird aussortiert. Ich muss Dir hoffentlich nicht sagen, dass wir so eine Zeit im früheren Deutschland schon mal hatten.´ Dass ich sehr wohl eine eigene kritische Meinung habe und ihr vehement widersprach, wollte sie nicht gelten lassen. ´Wir haben den Klimawandel massiv eingedämmt, die Kriege in Syrien, Jemen und der Ost-Ukraine waren die letzten bewaffneten Konflikte, die die Menschheit erleben musste. Sogar das bis dahin isolierte Land Nordkorea öffnete seine Grenzen und ließ die Menschen am Wohlstand teilhaben. Wenn ich das mit ein paar Theatern gegenrechne, die schließen mussten, lebe ich lieber im Jetzt als in der Vor-Corona-Zeit.` Meine Tante hatte mir nach dem ersten Halbsatz schon nicht mehr zugehört.

„Meine Tante hätte diesen Ort geliebt“, lasse ich Maria Stuart wissen, während wir uns in die hinterste Reihe gesetzt haben, um uns die Theaterprobe anzuschauen. Ich habe Hamlet natürlich schon bei EntertaintMe gesehen – da war deutlich mehr Tanz und Gesang als in diesem Stück. Diese Aufführung ist laut, dreckig, voller Anspielungen, verstörend und: faszinierend! Ich verstehe nicht alles, doch das Stück berührt mich – ich fühle mich euphorisch und melancholisch zugleich. Und ich begreife plötzlich, was meine liebe Tante meinte. „Siehst Du – das ist Theater und nur Theater kann Dich so berühren“, wisperte Maria Stuart.

„RAZZIA!“ Maria Stuart zieht mich plötzlich an der Hand mit sich und rennt mit mir durch die verwinkelten Gänge des Bunkers. Durch eine für mich unsichtbare Tür stößt sie mich ins Freie. Geblendet, verwirrt und überfordert, drehe ich mich zu ihr um. „Bieg zweimal links ab, dann rechts, links, zweimal rechts und dann immer geradeaus, dann bist Du wieder in Mitte.“ „Aber wann sehen wir uns wieder?“, stammel ich verzweifelt. „Ich finde Dich…“

Autoren-Details

Anke schreibt hauptsächlich Kurzgeschichten. Ideen für ihre Geschichten findet sie in ihrem Lieblingsviertel von Hamburg – Altona – und bei den unterschiedlichsten Kunst- und Kulturveranstaltungen.

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