Sara

Sara ist jetzt vier Jahre alt. Sie geht immer noch nicht in die Kita. Das ist ungewöhnlich. Der Stadtteil, in dem ich lebe, hat die höchste Geburtenrate der Republik nach dem Prenzlauer Berg in Berlin. Auch bei uns im Haus kann man das sehen. Alle paar Jahr zieht ein neues junges Paar ein, und wir schließen jedes Mal eine Wette darauf ab, wie lange es dauern wird, bis das erste Kind kommt. Meist passiert das innerhalb der ersten zwölf Monate, und meist kommt bald darauf das zweite. Auch wie es dann weitergeht, wissen wir im Voraus. Die Kleinen kommen in die Krippe, sobald sie sechs Monate alt sind, weil alle Eltern natürlich berufstätig sind. Auf den Straßen von Ottensen sind jeden Tag hunderte von Müttern und Vätern unterwegs, die Kinder mit dem Fahrrad oder zu Fuß hin-und herbringen, morgens in die Kita, spät nachmittags zum Sport oder zu Musikgruppen und abends wieder nach Hause. Es ist ein einziges Kommen und Gehen, ein bisschen wie im Ameisenhaufen. Nur Sara habe ich selten gesehen, nur, wenn ihre Mutter einmal am Tag mit ihr zum Spielspatz gegangen ist. Am Anfang war mir das gar nicht aufgefallen. Seit letztem Jahr haben wir sieben kleine Kinder im Haus, das ist ein neuer Rekord, selbst für uns. Der Hausflur ist zugeparkt mit Kinderwagen und -karren, so dass man kaum durchkommt, und an jedem Wochentag brandet Getrappel und Geplapper durch das knarzende alte Treppenhaus. Das Saras Stimme fehlt, ist dabei untergegangen. Aber seit vier Wochen ist alles anders. Die Straßen sind leer, seit die Ausgangsbeschränkungen zur Eingrenzung des Corona-Virus beschlossen wurden. Alle Kitas sind geschlossen, Mütter und Väter bleiben zu Hause und kümmern sich selbst um den Nachwuchs. Von Zeit zu Zeit trauen sie sich mit den Kindern auf die Straße, aber nicht auf die Spielplätze, denn die sind ja auch geschlossen. Meist reicht es nur für einen kurzen Spaziergang zum Fischers Park, dann geht es schnell wieder zurück. Auf den Gesichtern der Eltern kann man dabei immer einen verlegenen Ausdruck sehen, denn anfangs hieß es: Die kleinen Kinder sind ein Risikofaktor, sie zeigen meist keine Symptome, auch wenn sie das Virus haben. Man kann also nicht wissen, ob sie ansteckend sind. Lasst also die kleinen Kinder zu Hause! In unserem Treppenhaus ist es seitdem sehr still geworden. Mir kam sehr bald der Gedanke: Wie sollen die Familien das auf die Dauer aushalten? Glücklich die, die wenigstens einen Garten haben, in dem die Kinder spielen können. Das ist bei uns im Stadtteil aber selten. Allmählich stieg ein Gefühl von Stress auf. Nein, eine Ausgangsbeschränkung ist keine neue Variante von bezahltem Urlaub. Wir haben alle Angst davor, uns anzustecken und vielleicht im Krankenhaus zu landen. Wir haben Angst davor, dass unser Arbeitgeber pleite gehen könnte und wir arbeitslos werden. Wir haben Angst um unsere alten Eltern. Wir telefonieren mit Menschen, die wir seit Jahren nicht gesehen haben und fragen nach, wie es ihnen geht. Wir gründen online-Foren, um damit Begegnungen mit echten Menschen zu simulieren. Wir halten Videokonferenzen ab und sind trotzdem alleine. Einige Kitas melden sich morgens über Skype und spielen mit den Kindern online Morgenkreis. Nur bei Sara meldet sich niemand. Dann begann sie zu schreien. Sie schrie so laut, dass sie im leeren Treppenhaus nicht mehr zu überhören war, selbst für mich, die ich ein Stockwerk über ihr wohne und jeden Tag vor meinem Laptop im Arbeitszimmer saß. Mir war bald klar: Das ist Sara. Man muss dazu wissen, dass Sara ein ungewöhnlich hässliches Kind ist und bei jeder Begegnung einen irritierend unsympathischen Eindruck macht. Selbst die hässlichsten kleinen Kinder (und wir haben zwei weitere davon im Haus, die Brüder sind) sind unschlagbar bezaubernd, wenn sie lächeln, weil man sie anspricht und auch wenn sie weinen, weil sie traurig sind und man sie tröstet. Bei Sara ist das anders. Sie interessiert sich nicht für ihr Umfeld, und wenn man sie anspricht, setzt sie ein Gesicht auf, das man bei einem Erwachsenen als gehässig bezeichnen würde. Darin gleicht sie übrigens ihren Eltern, die die mit Abstand unfreundlichsten und abweisendsten Nachbarn sind, die ich in diesem Haus je erlebt habe. Man neigt also dazu, Sara zu ignorieren, weil der Anblick so unerfreulich ist. Aber jetzt schreit sie. Zweimal bin ich zufällig die Treppen heraufgekommen, als sie und ihre Mutter vor der Wohnungstür standen. Sara stand in einer Ecke des Treppenabsatzes, an die Wand gedrückt. Sie weigerte sich, zurück in die Wohnung ihrer Eltern zu gehen und schrie dabei aus Leibeskräften. Ihre Mutter stand mit genervtem Gesichtsausdruck in der Mitte des Treppenabsatzes und sah sie noch nicht einmal an. Sie reagierte auch nicht, als ich an den Beiden vorbei ging. Seitdem geht mir Sara nicht mehr aus dem Kopf. Was erlebt sie, wenn sie alleine mit ihrer Mutter und ihrem Vater in dieser Wohnung ist? Wenn niemand zusieht? Was ist für sie so schrecklich, dass sie auf keinen Fall wieder zurück in die Wohnung gehen will? Warum schreit sie? In den letzten Tagen hat sich das Bild von der schreienden Sara in meine Träume eingeschlichen. Ich fühle mich hilflos, das kenne ich von mir nicht. Kann ich ihr helfen? Gibt es irgend jemanden, den ich anrufen könnte, um Sara zu helfen? Bei jeder anderen Familie im Haus würde ich nachfragen, ganz freundlich, ob alles in Ordnung ist oder ob sie Hilfe brauchen. Nicht bei Saras Eltern. Ich weiß nicht, was dort passiert, also was sollte ich jemandem sagen, den ich um Hilfe bitte? Wie vielen Kindern geht es in Zeiten von Corona so wie Sara? Wie viele Nachbarn fragen sich, was sie tun können, wenn alle Hilfseinrichtungen geschlossen sind? Dazu gibt es kein online-Forum, jedenfalls habe ich keines gefunden. Heute ist mir aufgefallen, dass ich durch die leeren Straßen meines Stadtteils gehe und Ausschau halte nach den Kindern, die sonst auf ihren Laufrädern um mich herum wuseln. Ich habe eine neue Angst.

Author Details
Der Autor/die Autorin schreibt für SchreibAltona.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert